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Title
Kapitalismus ohne Demokratie. Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen


Author(s)
Slobodian, Quinn
Published
Berlin 2023: Suhrkamp Verlag
Extent
427 S.
Price
€ 32,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Marc Buggeln, Institut für Geschichte und Geschichtsdidaktik, Universität Flensburg

Quinn Slobodian, Historiker am Wellesley College, ist in Deutschland bekannt geworden mit seinem Buch „Globalisten“,1 in dem er den Aufstieg des Neoliberalismus und insbesondere der Mont Pelerin Society mit dem Niedergang der Imperien und den Veränderungen von Staatlichkeit verbunden hat. An diese Fragen schließt sein neues Buch an, welches im Englischen den Titel „Crack Up Capitalism“ trägt. Im Wesentlichen geht es ihm darum, wie eine neue Generation der Neoliberalen angetreten ist, den Nationalstaat anzugreifen, indem versucht wird, extraterritoriale Zonen zu errichten, in denen nur die Gesetze des Marktes gelten sollen und Staatlichkeit zumindest in der Theorie auf ein Mindestmaß reduziert wird. Wie das vorherige Werk ist auch dieses durch einen ideengeschichtlichen Zugriff geprägt, der aber auch immer danach fragt, wo Ideen praxisrelevant wurden.

Das Buch spielt für ein historisches Werk in einem sehr weitreichenden Maße in der allerjüngsten Vergangenheit und geht in der Haupterzählung zumeist nur in die 1980er-Jahre zurück, auch wenn einzelne Entwicklungen weiter zurückverfolgt werden. Aufgrund dieser Aktualität beruht das Buch auch kaum auf archivierten Materialien, sondern im Wesentlichen auf Literatur sowie Presseartikeln. Das Buch gliedert sich in drei Teile („Inseln“, „Phylen“ und „Franchise-Nationen“) und elf Kapitel. Die Kapitel haben jeweils einen geografischen Schwerpunkt, der anhand einer dem Kapitel vorangestellten Karte veranschaulicht wird. Allerdings springt Slobodian in den Kapiteln häufig hin und her, was dem Buch mitunter einen eher anekdotischen als analytischen Blick verleiht.

Slobodian steigt in das Buch mit Zitaten aus einem Vortrag des Wagnikapitalgebers Peter Thiel aus dem Jahr 2009 ein, in dem dieser Freiheit und Demokratie für unvereinbar erklärte und für die Gründung tausender kleiner Gemeinwesen als sichere Häfen für Kapital plädierte. Slobodian betont, dass Thiels Vorstellungen keine reinen Wunschfantasien seien, sondern eine Entwicklung hin zu kleinen Steueroasen, Sonderwirtschaftszonen und Freihäfen tatsächlich seit einigen Jahrzehnten zu beobachten ist. Er schlägt für diese heterogenen Gebilde, von denen es nach seiner Schätzung aktuell etwa 5.400 auf der Erde gibt, den Oberbegriff „Zone“ vor. Die Zone bildet für ihn das wesentliche Mittel radikaler Marktbefürworter, um globale Politik neu zu ordnen. Sie soll einen von den Zumutungen der Demokratie befreiten Kapitalismus ermöglichen.

Im ersten Teil werden diese Themen an Entwicklungen in den Städten Hongkong, London und Singapur verfolgt. Hongkong stieg spätestens Ende der 1970er-Jahre zu einem bevorzugten Modell der Neoliberalen auf, als Milton Friedman es in seiner Fernsehserie „Free to choose“ als gelungenes Beispiel für einen funktionierenden Markt ohne freie Wahlen präsentierte. Für ihn wurde die britische Kronkolonie wie eine Kapitalgesellschaft und nicht wie ein Staat geführt, was überaus vorteilhaft sei. Besonders lobte er das Steuersystem, das keine Erbschafts- und Kapitalsteuern kannte und auf Löhne und Einkommen nur eine einheitliche flattax von fünfzehn Prozent erhob. China behielt dieses System zu einem erheblichen Teil bei, als es Hongkong übernahm. Für Slobodian ist die Folge klar: Hongkong zeichnet sich durch eine extreme Konzentration des Reichtums aus. Die reichsten zehn Familien besitzen etwa ein Drittel des Unternehmenssektors und durch das Fehlen von Erbschaftsteuern ist dieser Reichtum dynastisch.

In London schuf Margaret Thatcher, auch inspiriert vom Vorbild Hongkong, einen zum Teil extraterritorialen Finanzbezirk in Canary Wharf. Für Slobodian machte sie damit einen Teil Londons zu einer Spielwiese von Investmentbankern und Immobilienspekulanten, während ein Großteil der Bewohner:innen vom durch die Stadt ziehenden Geldfluss kaum profitierte. So entstand eine gespaltene Stadt, in der eine globale Elite millionenteure Apartments besaß, die sie kaum bewohnte, während am anderen Ende der sozialen Skala Menschen in den nicht gewarteten Apartments des Grenfell Towers verbrannten. Singapur nahm neben Hongkong zur Jahrtausendwende beständig die Spitzenplätze in neoliberalen Rankings zur wirtschaftlichen Freiheit ein. Slobodian argumentiert, dass diese wirtschaftliche Freiheit aber entgegen dem Verständnis vieler Neoliberaler von einem starken und autoritären Staat bewusst geschaffen wurde.

Der zweite Teil des Buches trägt den Titel „Phylen“, der den freiwilligen Zusammenschluss gleichgesinnter Einwohner bezeichnet. Slobodian beginnt diesen Teil mit einem Kapitel über Südafrika, in dem es um die Einrichtung von Homelands für die Schwarze Bevölkerung geht, um diese in extraterritorialen Räumen ohne Staatsbürgerschaft festzusetzen. Liberale Ökonomen versuchten in diese Zone ausländische Unternehmen anzusiedeln, was mitunter auch gelang. So siedelten sich in Ciskei etwa 80 taiwanesische Firmen an, die dort aber nur aufgrund der Niedriglöhne und staatlicher Subventionen blieben und nach dem Ende der Apartheid oft wieder gingen. Da es sich beim südafrikanischen Beispiel keineswegs um einen freiwilligen Zusammenschluss handelte, darf man vermuten, dass Slobodian diesen Einstieg in das Kapitel gewählt hat, um von Beginn an klarzumachen, dass viele neoliberale Ideen zu freiwilligen Zusammenschlüssen eine rassistische Grundierung hatten.

Im folgenden Kapitel steht Murray Rothbard im Zentrum, den Slobodian als geistigen Vater des sezessionistischen Neoliberalismus und des „Anarchokapitalismus“ bezeichnet. Rothbard plädierte in seinen Schriften für die Abspaltung kleinerer Einheiten aus den bestehenden Nationalstaaten, um deren Regulierungstätigkeit zu schwächen und letztlich zu zerstören. Rothbard verband dabei den absoluten Vorrang des Marktes mit einem umfassenden Rassismus. Ein Ziel der sich an Rothbard anlehnenden Neokonföderierten war die Wiedererrichtung einer von Weißen dominierten Südstaatenrepublik, die sich dem Freihandel verschrieb.

Als Beispiel einer selbst gewählten Gemeinschaft präsentiert Slobodian die Gemeinde Sea Ranch in Kalifornien, in der sich etwa 10.000 Einwohner einer Gated Community einen eigenen 56-seitigen Tugendkatalog gegeben haben. Die Einwohner:innen der Gemeinde sind in einer ansonsten diversen Umgebung zu 97 Prozent weiß. Slobodian bezeichnet diese gatedcommunities als Wiederbelebung der befestigten Siedlung des Mittelalters und sieht bei vielen Neoliberalen eine „fetischisierte Verehrung des Mittelalters“ (S. 174). So veranstaltete etwa Milton Friedmans Sohn, David Director Friedman, nicht nur Mittelalterspektakel, sondern glaubte auch im Island des Mittelalters eine anarchokapitalistisch organisierte Gesellschaft gefunden zu haben. Wesentlich war ihm und anderen Neoliberalen dabei die Vorstellung, dass nicht der Staat für das Strafrecht verantwortlich war, sondern Großfamilien, die bei Vergehen nicht auf Rache oder Inhaftierung bestanden, sondern eine materielle Kompensation forderten. Der letzte Ort des zweiten Teils ist Liechtenstein, das als männliche Autokratie charakterisiert wird, die sich vollständig den Bedürfnissen des hypermobilen Kapitals angepasst hat. Fürst Hans Adam II. gelang es dort 2003, eine ihm weitreichende Rechte zugestehende Verfassung verabschieden zu lassen, indem er drohte, Liechtenstein anderenfalls an Bill Gates zu verkaufen. Der Fürst war Mitglied der Hayek-Gesellschaft und ein Befürworter des Brexits, den er als Beginn einer Rückkehr zur europäischen Kleinstaaterei des Mittelalters betrachtete.

Der dritte Teil führt unter dem Titel „Franchise-Nationen“ zuerst einmal weg von den Metropolen und Hot Spots des Kapitalismus. Als Akteur tritt der niederländische Libertäre Michael van Notten auf, der an mehreren entlegeneren Orten der Welt – unter anderem in Auba, Surinam und Somalia – versuchte, steuerbefreite Freizonen aufzubauen. In Somalia versuchte er dies, indem er Clans als Alternative zur modernen Staatlichkeit darstellte. Seine Initiativen scheiterten letztlich zwar überall, aber Slobodian sieht sie als wichtigen Ausdruck des Zeitgeistes. Wesentlich erfolgreicher waren die durch den Ölreichtum beförderten Versuche Dubais, sich durch die Schaffung von Sonderwirtschaftszonen, Edeltourismusparks und Freihäfen wirtschaftliche Standbeine für eine Zeit nach dem fossilen Zeitalter zu sichern. Das folgende Kapitel porträtiert den Stanforder Ökonomieprofessor Paul Romer, der ähnlich wie Nonnen versuchte, in Madagaskar, Honduras und El Salvador sogenannte „Charter Cities“ zu errichten, wobei die Länder ihre Hoheitsrechte dabei für lange Zeit an Konzerne verpachten sollten. Das letzte Kapitel kehrt dann wieder zum Ausgangsort der Überlegungen, dem Silicon Valley, zurück. Als Ur-Text des Tech-Libertarismus des Valleys gilt „The Sovereign Individual“ aus dem Jahr 1997 von James Dale Davidson und William Rees-Mogg. Sie skizzieren darin eine Welt, die von einer hochmobilen und hyperintelligenten Superklasse von höchsten hundert Millionen Menschen beherrscht wird, die die Masse genügsamer Arbeitskräfte mit niedrigen IQs aus der Ferne lenkt. Dabei sprachen sie von einer Rückkehr zur vielgestaltigen Ordnung des Mittelalters, in dem die Energien der Elite nicht durch eine als parasitär verstandene Sozialpolitik für die breite Masse verbraucht worden seien. Abschließend werden einige der jüngeren Pläne der Tech-Elite zur Errichtung von Zonen auf der Erde oder gar im Weltall präsentiert. Slobodian sieht diese grundlegend dadurch gekennzeichnet, dass die für die im Blickpunkt stehenden Tech-Eliten zur Versorgung notwendigen Dienstleistungskräfte vergessen werden und fragt, ob gegen deren Bedürfnisse ein Kapitalismus ohne Demokratie durchsetzbar sein wird.

Im Schlusskapitel wird auf Sonderzonen eingegangen, die China mit der neuen Seidenstraßen-Initiative oder Saudi-Arabien mit dem Megastadtprojekt Neom errichten wollen. Sie dienen Slobodian als Argument dafür, dass die Zonen keine staatsfreien Räume sind, sondern Werkzeuge von Staaten, die mit ihnen eigene Interessen verfolgen. Er betont zudem, dass auch Peter Thiel seine Staatsfeindschaft inzwischen überwunden habe und sein Unternehmen Palantir millionenschwere Verträge mit US-Behörden und dem US-Militär abgeschlossen habe. Doch was bedeutet das? Sind die neoliberalen Entstaatlichungsfantasien damit desavouiert? Leider bündelt Slobodian seine Erkenntnisse am Schluss nicht und präsentiert auch keine Thesen. So bleibt unklar, ob er die libertären Zonenpläne und ihre Entstaatlichungsvorstellungen letztlich für nicht sehr erfolgreich und auch in Zukunft wenig durchschlagskräftig hält oder ob er in ihnen doch eine reale Gefahr für die moderne Staatenwelt und ihre Ordnung sieht. Slobodian konzentriert sich zudem auf die Vorstellungen von Unternehmern und neoliberalen Ideologen. Weit weniger gerät in den Fokus, was es bedeuten kann, wenn Politiker an die Macht kommen, die radikal-antistaatlichen Vorstellungen anhängen und versuchen, den Staat von innen heraus auszuhöhlen.

Debattieren ließe sich auch über manche Begrifflichkeit. Trifft der Begriff „Anarcho-Kapitalismus“ das Phänomen einer neoliberalen Ideologie, die sich in ihrer Staatsfeindschaft vielleicht mit dem Anarchismus trifft, aber ansonsten wenig Verbindungen zu dessen Ideen aufweist? Wird mit den Bezügen auf das Mittelalter tatsächlich eine Feudalisierung der Verhältnisse angestrebt? Nichtsdestoweniger handelt es sich um ein lesenswertes Buch, das einige jüngere Entwicklungen, die bisher kaum ins Blickfeld der Geschichtswissenschaften gerückt sind, pointiert präsentiert und so die auf Staatszerstörung ausgerichteten Fantasien und Planungen eines Teils der neoliberalen Denker und Praktiker ins Blickfeld der Öffentlichkeit holt.

Anmerkungen:
1 Tobias Rupprecht, Rezension zu: Slobodian, Quinn: Globalists. The End of Empire and the Birth of Neoliberalism. Harvard 2018 , ISBN 978-0-674-97952-9, In: H-Soz-Kult, 02.08.2018, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-26524 (04.12.2023).

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